Unser Glockenturm

von Karl-Heinz Strothmann

UNSER GLOCKENTURM

von Karl-Heinz Strothmann

Unser Glockenturm ist mit Sicherheit eines der ältesten Bauwerke der Stadt. Sein repräsentatives Erscheinungsbild am exponierten Platz im Stadtbild veranlasste zu allen Zeiten Bürger und Besucher dem „Wahrzeichen“ Arnsbergs ihre Bewunderung in Poesie und  Prosa zum Ausdruck zu bringen. Den Anlass dazu haben wir zum Teil sicherlich in seiner altehrwürdigen Vergangenheit zu suchen.

Vor Antritt unserer historischen Exkursion aber will ich mich bemühen, die authentischen Daten und Fakten festzuschreiben. Deren sind es leider nicht allzu viel, denn die Archivakte 18/3631 von 1864 bis 1928 des Stadtarchivs ist leider verloren. dieser Umstand machte eine Neuvermessung erforderlich, die dankenswerterweise die Vermessungsabteilung des Hochsauerlandkreises ausführte.

Es ergaben sich folgende Grundrissmaße:

Länge der

Nordseite           7,88 m

Ostseite              7,65 m

Südseite              7,96 m

Westseite           8,35 m

Die Gesamthöhe von Süden gemessen beträgt bis zur Turmspitze 44,20 m, und zwar 24,91 m bis zum Mauersims, während die barocke Zwiebelhaube – auch als „welsche Haube“ bezeichnet – 21,29 m misst. Das Mauerwerk des Turmes hat im unteren Teil eine durchschnittliche Stärke von 1,50 m und verjüngt sich bis oben auf ca. 1,0 m. Gekrönt wird das Bauwerk vom goldblinkenden Turmhahn. Der heutige wurde 1830 vom Kupferschläger Tiltmann gefertigt, wie mir eine Nachfahrin des Meisters stolz vor Jahren versicherte. Das Wappen im Gewölbe zwischen den Torbögen hält die Erinnerung an die gräfliche Vergangenheit wach. In das Turminnere gelangt man von der Schloßstraße über 25 Stufen zum Podest zwischen Stadtkapelle und Turmeingangstür. Am ehedem südlichsten Wehrturm der eigentlichen alten Stadt sind die unteren Maueröffnungen als Schießscharten ausgebildet, wogegen die größeren oberen Durchbrüche in Uhrhöhe als Schallöffnungen anzusprechen sind. Die Öffnungen im Mittelteil der „Laterne“ verschließen Holzläden, verschönt durch die aufgemalten 4 Grundwappen der Kölner Landesherren, und zwar nach N Westfalen, nach O Grafschaft Engern, nach S Grafschaft Arnsberg, nach W Kurköln. Der Außenputz und Anstrich wurde, auch um schadhafte Stellen vom Artilleriebeschuss des Krieges auszubessern, 1979 ganz erneuert, 1949 waren nur die Ost- und Südseite neu verputzt worden. Der vorletzte Spritzputz ringsum stammte aus der Mitte der 20er Jahre d. Jh. Doch nun der Blick zurück. Einer Urkunde von 1238 (Seibertz, Nr. 211) zufolge, war man um diese Zeit unter der Regierung Graf Gottfried III. mit der Anlage der Stadtmauern und Stadttürme beschäftigt. Für die Entstehung des Glockenturmes, zunächst als Wehr- und Wachturm, und damit südlichstes Kernstück der Befestigungsanlage im gleichen Jahre, sprechen einmal seine für diese Ära typischen frühgotischen unterspitzten Torbögen und Schallöffnungen, als auch das Kreuzgratgewölbe mit dem überhöhten Scheitel und den sich verlaufenden Gratansätzen. Unser Schmuckstück darf sich somit rühmen, gleichzeitig mit dem Bamberger Dom und schon vor Baubeginn des Kölner Domes entstanden zu sein.

Die ursprüngliche Zweckbestimmung als Bollwerkstützpunkt schließt jedoch nicht aus, dass nach späterer Errichtung der zweiten Stadtkapelle (1323) dem Glockenturm eine ebenso hohe Bedeutung als Kirchturm der Stadtkirche zuzusprechen ist. Hier einflechten möchte ich die Erinnerung an ein unrühmliches Zwischenspiel, welches s.Z. viel Aufsehen erregte. Auf Veranlassung des Kreisleiters der NSDAP wurde am 7. April 1937 der Wetterhahn durch ein Hakenkreuz ersetzt, das bis Kriegsende auf der Turmspitze verblieb.

Dieses Ereignis nahm der damalige Propst Bömer zum Anlass, das Allerheiligste aus der Stadtkapelle abzuholen und diese zu schließen. Der Wetterhahn überdauerte das Intermezzo im Heimatmuseum und nahm 1948 seinen angestammten Platz wieder ein.

Ob wegen der Brandgefahr, oder aus welchen sonstigen Gründen man damals die Kirche nicht direkt an den Turm setzte, ist heute schwerlich zu sagen. Die eigentlich nur durch Scharten und Schallöffnungen unterbrochenen, sonst ungegliederten Mauermassen sind in ihrer Urform bis heute erhalten. Doch sind zwei giebelförmige Nischen im östlichen Teil der Nord- und Südwand erwähnenswert. Sie dienten offenbar als Schutz für Laternen oder Lichter, die der Nachtwächter allabendlich mittels einer Stange von der Seitenplattform aus in diese zu setzen hatte, um Spätheimkehrern den Weg zum nachts bewachten Stadttor zu weisen. Immerhin zogen durch dieses Stadttor allein noch 4 Grafengenerationen und hernach alle kurfürstlichen Herren von 1369 bis 1803, und zu Kurfürst Ernst’s Zeit leuchtete man sicherlich auch der Jungfrau Gertrud, von Plettenberg oftmals auf diese Weise heim. Eine Türmerlaterne im Sauerland- Museum, im Mitteilungsblatt „Heimat“ des Arnsberger Heimbundes Nr. 2/3, 1950 bildlich dargestellt, hält die Erinnerung an Arnsbergs älteste Straßenbeleuchtung wach.

Vor dem großen Stadtbrand von anno 1600, und auch noch danach bis zum Brande von 1709, krönte den Turm eine Art Zeltdach in gotischer Form mit 4 Ecktürmchen als Ausguck. Erkennbar sind letztere sowohl auf Braun-Hogenbergs, als auch Eßls Abbildungen. Eine Rechnung des Meisters Hermann von Plettenberg weist diesen als Schöpfer des Daches von 1603 aus. Die Verschieferung erfolgte 1604. Da Meister Veltin die unwesentlichen Maurerarbeiten in drei Tagen erledigte, ist davon auszugehen, daß das Feuer nur das Turmdach zerstört hatte. Dem Meister Hermann von Plettenberg war der Auftrag wohl deshalb zuteil geworden, weil ihm die Turmform mit Ecktürmchen vom Kirchturm in Plettenberg, seiner Heimatstadt, vor 1725 (siehe Ludorff, Kr. Altena, S. 79) geläufig war. Dieweil er von Arnsberg einen Boten nach Attendorn entsandte, scheint er zuvor dort tätig gewesen zu sein.

Nach dem Brand von 1709 verzögerte sich, wahrscheinlich aus Unklarheit über die Unterhaltspflicht, die Wiederherstellung bis 1722. In der Stadtrechnung von 1720/21 war nämlich von einem „decretum wegen des Klockenturmes“ die Rede. Von da an, bis Kriegsende 1945, zierte die dickbauchige barocke Zwiebelhaube von einem Meister A. Voslohe gezimmert, der dafür lt. Vertrag nach halbgetaner Arbeit 50 Rhtlr. und bei Fertigstellung nochmals 100 Rhtlr., insgesamt also 150 Rhtlr. erhielt, das Prunkstück unserer Altstadt.

Aus nicht geklärten Gründen brach im Mai 1945 im Holzwerk der Kuppel ein Feuer aus. Mit Mühe und Not konnte die Feuerwehr mit Unterstützung amerikanischer Besatzungssoldaten ein Übergreifen des Brandes auf die Stadtkapelle und anliegenden Häuser verhindern. Die Turmspitze selbst aber brannte völlig ab. Frau Oda Schauerte hielt das dramatische Geschehen in einigen Fotos fest. Unklarheit entstand in der Folgezeit über das genaue Branddatum. So steht zu lesen:

Spendenaufruf des Arnsberger Heimatbundes 11.5.1945

100 Jahre Arnsberg im Bild, Strobel-Verlag, 1976, S. 51 a 9.5.1945

Arnsberg 100 Jahre im Bild, Strobel-Verlag 1983, S. 272 9.5.1945

Norbertusblatt, Propsteigemeinde Arnsberg, 1955 Nr. 5, S. 2

„es war am Tage vor Himmelfahrt“

in einem späteren Aufsatz

„am Tage nach Christi Himmelfahrt“

(Christi Himmelfahrt war am 10. 5. 1945)

Norbertusblatt, Propsteigemeinde Arnsberg 1958, Nr. 2 11.5.1945

Heimat unter Bomben, Zimmermann-Verlag, Balve 1969, S. 53 9.5.1945

Festschriften der Feuerwehr Arnsberg

(nach dem erst im Jan. 1946 verfaßten Bericht) 12.5.1945

Bronzetafel am Glockenturm 12.5.1945

Endgültige Klarheit aber brachte ein Zufallsfund im Archiv des Arnsberger Heimatbundes. Der Augenzeuge Konrektor Kanthak, der ab September 1942 minutiös genau in einer Kladde die Bombenalarme und -angriffe notierte, schließt sein „Kriegstagebuch“ mit der Notiz:

Fr. 11. Mai 1945, nachm. 3,00 Uhr. Der Glockenturm brennt.

Dieses letztere Datum bestätigt ein Schreiben der Propstei-Kirchengemeinde vom 12. 7.1945, die um diese Zeit bemüht war, das Eigentum am Turm zu erwerben. Die Stadt war zur Eigentumsübertragung bereit. Die Militärregierung jedoch versagte am 20. 2. 1946 die Zustimmung.

Trotz schwerster Not- und Hungerjahre der Nachkriegszeit schien den Bürgern unserer Stadt das jammervolle Bild des enthaupteten Glockenturmes immer unerträglicher. Unter Führung des Heimatbundes suchte man mit Hilfe der Stadt nach Mitteln und Wegen, wie man trotz der Bewirtschaftung aller Güter an das Material zum Wiederaufbau und zur notwendigen Genehmigung der Militärregierung gelangen könnte. Die Pläne, diesmal für eine Eisenkonstruktion, erstellte der Dipl. Ing. Architekt Wrede, Hamm, ein gebürtiger Arnsberger. Besondere Verdienste um die Materialbeschaffung, speziell der 13 t Stahl für die Grundkonstruktion (15,25 m hoher Gittermast mit Querträgem in 2 m Abstand) erwarb sich der damalige Regierungspräsident Fritz Fries. Nach Überwindung ungezählter Hindernisse und Schwierigkeiten war im Februar 1948 mit Fertigstellung der neuen Zwiebelhaube eine kaum lösbar erscheinende Aufgabe zu Ende geführt. Die Gesamtkosten beliefen sich auf RM 94.000,-.

Begeistert brachte die Bürgerschaft davon an Bargeld und Sachspenden (Blei, Messing, Zinn, Kupfer) stolze RM 51.597,10 auf und steuerte damit auch zur Beschaffung der 1952 installierten Turmuhr bei. Eine schon 1945 durchgeführte Kollekte der Propstei -Kirchengemeinde erbrachte RM 12.000,-.

Doch zurück zur „welschen“ Barockhaube. Diese Form des Turmhelmes stellte damals (evtl. bayrisch-wittelsbachscher Einfluss?) in hiesiger Gegend nichts so Ungewöhnliches dar, wie es zunächst scheint. Ich erinnere an die Türme in Meschede, Eversberg, Soest, Werl und Lippstadt. Im Bauch der unteren Hauptzwiebel war früher auch die Wachstube des Turmwächters untergebracht. Schon in der Stadtrechnung von 1611/12 findet ein für den Glockenturm bestimmtes kupfernes Nachthorn Erwähnung. Im Rechnungsprotokoll vom 3. Oktober 1648 ist bestimmt: „Es sollen die Nachtwächter des Abendts auf dem Klockenthurm umb 8 Uhr wie auch des Morgens zu 4 Uhren nach altem Gebrauch mit der Klocken läuten und die Wache fleißig halten.“

Licht und Wachtholz lieferte gemäß der Stadtrechnung von 1651/52 dem das Amt des Türmers versehenden Ziegenhirten die Stadt. 1656 erscholl nach dem Rechnungsprotokoll sogar Choralmusik durch zwei aus Menden stammende Spielleute, die sich regelmäßig der „Abblasungh geistlicher lieder“ befleißigten.

In der alten Stadtrechnung von 1724 steht zu lesen: „Wegen des Läutens den Nachtwächtern Abend um 9, Morgens um 4 Uhr 1 Tlr. und 9 Schilling. – Stoch (wohl Stoff) vor Laken und Hanschen 12 1 Tlr. ,für Schuhe 2 Tlr., für Licht 27 Schilling. Dem Kuhhirten Sander für Schuhe, vor abends und morgens leuthen und weiß Gewandt zusammen 2 Tlr. 46 Schilling. Jürgen Dülberg_für dasselbe 2 Tlr. 24 Deut. 1726 den beyden Nachtwächtern ist zugelegt auf dem Klockenthurm für 27 Schilling. Dem Nachtwächter J. Dülberg für Schuhe, morgens und abends leuthen und für Gewandt 2 Tlr. 4 Schilling 6 Deut. Dem Nachtwächter Zander totidem (ebensoviel).“

Ursprünglich war der laternengleiche mittlere Haubenteil nur von Eckpfosten getragen, allseits geöffnet und durch eine hölzerne Balustrade begrenzt, so dass von dort der Türmer freien Ausblick in alle Himmelsrichtungen hatte. Dieser Zustand setzte die Holzkonstruktion und die darunter gelegenen Bausubstanzen naturgemäß andauernd schädlichen Witterungseinflüssen aus. Um dem abzuhelfen ging man nach 1784 dazu über, die Öffnungen zu schließen. In diesem Jahre verfügte der Magistrat wegen der Brandgefahr die Beendigung der Turmwache. Die Nachtwächter zündeten bis dahin wintertags in der Türmerstube ein Öfchen an.

Nach diesem Zeitpunkt durfte sich kein Wächter mehr auf dem Turm aufhalten. Vielmehr wechselten von da ab zwei Nachtwächter einander zum Kontrollgang durch die Stadt und Hornblasen ab. Ein Publikandum der hessischen Polizeideputation vom 18. 12. 1809 schränkte das „ruhestörende Hornblasen“ erheblich ein. Danach wurde um 9 Uhr einmal, um 10 Uhr zweimal, um 11 Uhr dreimal, um 12 Uhr viermal und ebenso in den Stunden nach Mitternacht bis 4 Uhr geblasen.

Das endgültige Aus der Nachtwächterromantik ist leider unbekannt. Die einstige Bedeutung als Wehrturm verlor der Glockenturm lange zuvor mit der Ausweitung der Stadt in südlicher Richtung und mit der zwangsläufigen Errichtung der erweiterten Stadtmauer bis etwa zum Lindenberg. Interessant, was Eßl 1669 dazu in der „Beschreibung der Stadt Arnsberg“ sagt. Dort heißt es: »Anfänglich ist diese Statt nicht grösser gewessen als vom Schloß bis an den hohen Thurm mitten in der Statt, so man den Glockenthurm nennet, weilen er der Stattkirchen so nahe stehet und desfalls zur Statt-Uhr, Klockengeleute, nächtlichem Thurmblasen usw. gebrauchet wird. Ist sonsten ehezeiten eins von der alten Stattpforten gewesen, folgends hat man die neue Statt daran gebauet.“

Nach Féaux (Gesch. Arnsbergs S. 560) wiederum ertönt aufgrund einer Stiftung, deren Urkunde angeblich beim großen Stadtbrand verloren ging, seit undenklicher Zeit im Winter vom ersten Oktobersonntag bis Ostern um 4 Uhr morgens und 8 Uhr abends das Geläut des Glockenturmes, um Verirrten den Heimweg finden zu helfen. Als ruhestörender Lärm von Bürgern angeprangert wurde das 4 Uhr-Läuten 1955 eingestellt.

Über das Geläut des Turmes berichtete W. Odenthal bereits in Heft 3 der „Heimatblätter“ 1982, S. 11/12. Dieser Beitrag wird ausführlich ergänzt durch einen Aufsatz von Franz Keßler, den dieser 1939 in Nr. 6 der Ruhrwellen S. 2 (nachgedruckt im Norbertusblatt der Propstei-Kirchengemeinde Nr. 9,1956) veröffentlichte. Hinweisen möchte ich auch auf einen Beitrag im letztgenannten Blatt auf S. 1, Nr. 2, 1958 und die Darstellung von Dr. Magdalena Padberg betr. „Glockengießerfamilien im Sauerland“ im Band „Glocken im Sauerland“, herausgegeben von der Sparkasse Finnentrop 1983. Angebracht erscheint an dieser Stelle auch ein Hinweis auf meinen Aufsatz „Die Stadtkapelle zu Arnsberg“ in Heft 3 der „Heimatblätter“ 1982. Die beiden zusammengehörenden Kulturdenkmale am alten Marktplatz stellen ein Stück gebauter Vergangenheit dar. Die Kenntnis um deren historische Bedeutung erfüllte von jeher die echten „Pohlbürger“, die „im Schatten des Glockenturmes“ das Licht der Welt erblickten, mit besonderem Stolz. Für das speziell sie in der Fremde mehr als alle anderen Bürger überfallende starke Heimweh scheint mir der Ausdruck „Glockenturmskrankheit“ die zutreffendste Definition.